Das schwarze Loch
Ein schwarzes Viereck an der Wand kann Kunst sein. So wie bei Kasimir Malewitsch, dessen gegenstandslose Quadrate in Moskau und Sankt Petersburg hängen. Seit dem Urvater der russischen Avantgarde haben viele Maler dieses Motiv aufgegriffen – Jason Martin, Eberhard Havekost, Pierre Soulages …
Fakt ist jedoch: In modernen Haushalten gähnen die meiste Zeit über schwarze Flächen, die mit Kunst rein gar nichts zu tun haben. Fernseher im Ruhezustand ziehen wie dunkle Löcher in der Wand die Blicke auf sich. Zumal ihre Bildschirme immer größer werden. 2010 hatte die Mehrheit aller in Deutschland verkauften TV-Geräte (57 Prozent) noch eine Displaydiagonale von höchstens 91 Zentimetern – oder 36 Zoll, wie es im Fachvokabular heißt. Zehn Jahre später war ihr Anteil laut Herstellerverband GFU bereits auf 21 Prozent gesunken, Tendenz weiter fallend. Inzwischen stellen Modelle ab 55 Zoll die beliebteste Gruppe (47 %). Gut sechs Prozent der Käufer gönnen sich sogar einen Boliden mit 70 Zoll – das sind dann 1,78 Meter Diagonale oder mehr.
Ein Ende der Entwicklung scheint nicht abzusehen. Wenn sogenannte Micro-LED-TVs der nächsten Generation bezahlbar und massenmarktfähig werden, steht dem weiteren Wachstum nichts im Wege. Hauchdünne Displays mit OLED-Technologie könnten bald die ganze Wand beanspruchen – als digitale Foto- und Videotapete in ultrascharfer 8K-Auflösung. Damit erhält der putzige 50er-Jahre-Begriff vom Fernseher als „Fenster zur Welt“ eine neue, buchstäbliche Bedeutung. Die Grenzen zwischen drinnen und draußen verschwimmen – beim Filme schauen und Radeln auf dem Hometrainer oder während der Teamarbeit mit Kollegen, die übers Internet zugeschaltet sind. Ob Architekten und Gebäudeplaner mit derartigen Szenarien rechnen? Besser wäre es. Dann bliebe uns künftig die Suche nach einem geeigneten Platz in der Wohnung erspart. Schwer vorstellbar, dass im loftigen Ambiente heutiger Wohn-/Essbereiche der Riesenbildschirm auch noch die letzte verbliebene Stellfläche an der Wand einnehmen soll. Stauraum? Wer braucht so was?
Zum Glück sind wir noch nicht so weit. Aktuelle Fernseher lassen sich bei Nichtgebrauch verstecken. Die Möbelindustrie hat sich viel dazu einfallen lassen: Schiebetüren, bewegliche Regalfronten und TV-Konsolen mit integrierter Hebebühne. In der Regel wachsen solche Lösungen aber nicht mit und die Lebenserwartung eines Schranks übersteigt die Nutzungsdauer moderner Fernseher bei Weitem. Die Anschaffung eines spezialisierten TV-Möbels will deshalb gut überlegt sein.
Abhilfe kommt auch von den Fernseherherstellern selbst. Manche empfehlen ihre Geräte als digitale Bilderrahmen. Ein bekannter koreanischer Anbieter etwa zeigt im Galerie-Modus ausgewählte Motive an und hat sich Produktdesigner Karim Rashid als Aushängeschild für seinen „Gallery TV“ geholt. Da die OLED-Technologie des Displays bei stundenlanger Anzeige zum Einbrennen neigt und Standbilder im schlimmsten Fall als graue Schatten auf der Anzeige verewigen würde, wechseln die Motive jedoch alle paar Sekunden durch. Dem kontemplativen Kunstgenuss ist so eine Diaschau eher abträglich.
Der größte Konkurrent – ebenfalls aus Korea – hat die Herausforderung konsequenter gelöst. Begünstigt durch die standbildfeste QLED-Technik (Achtung: das „Q“ macht den Unterschied) eignen sich seine Produkte eher als Galerieobjekt. Die „Frame“-TVs heißen nicht nur so, sie sehen auch wie Bilderrahmen aus und passen ihre Displayhelligkeit automatisch der Umgebung an. Damit Werke wie van Goghs Mandelblüten im Halbdunkel nicht unnatürlich hervorstechen. Ein integrierter Sensor aktiviert auf Wunsch den Kunstmodus, sobald jemand den Raum betritt, und schaltet ihn auch wieder aus. So verbrennt das Display keine Energie, wenn niemand hinschaut. Ein Abonnement für den zugehörigen Art-Store holt Hunderte Kunstwerke auf den Schirm. Kostenpunkt: 5 Euro im Monat. Auf Marktplätzen wie etsy.com bieten Online-Galerien einzelne Werke zum Download an. Quadrate von Malewitsch sind nicht darunter. Aber wer’s schwarz mag, kann das Gerät ja auch einfach auslassen.